jahnna Herz B, Tusche

Historisches zum Fühlen

Das bewusste Fühlen wird uns bis heute durch unsere eigene geistige Obrigkeit aberzogen. Eine kühne Behauptung? Prüfe es selbst:

Christoph Ernst Steinbach (1689 - 1741), der sich auch ‹Siebrand› nannte (der Rand des Siebes, der Teil des Siebes, durch den nichts hindurchfallen kann), war Arzt in Schlesien, sammelte Worte von Patienten und Dichtern und schrieb neben seiner medizinischen Tätigkeit eines der ersten deutschen Wörterbücher. Zudem kennzeichnete er Worte, um sie aus der Sprache zu entnehmen (auszusieben). Sein Buch zeigt: Im Jahr 1734 finden sich die Empfindungen ‹Angst›, ‹Wut›, ‹Freude›, ‹Leid›, ‹Traurigkeit› und ‹Liebe› im fast modernen Sprachgebrauch. Das Wort ‹Fühlen› ist alltäglich, wird synonym für Körperempfinden und Tasten verwendet und beschreibt auch immer wieder ein inneres Empfinden. Auch ‹Empfinden› ist in Verbindung mit z. B. ‹Leid› und ‹Verdruss› gebräuchlich.¹ ‹Traurigkeit› benannte das innere Gefühl und ‹Trauer› eine leidliche Sorge um etwas oder jemanden. Wenn schon vor 300 Jahren Fühlen im Alltag gelebt und ausgesprochen wurde: Warum haben wir es seitdem kaum weiterentwickelt und sogar eher wieder eingewickelt? ‹Fühlen› verschwand zeitweise aus der deutschen Sprache.²

Jedes Gefühl hat sechs elementare Anteile in immer wieder neuer Gewichtung: Angst, Wut, Freude, Leid, Traurigkeit und Liebe. Bis heute sehen Psychologie und Philosophie kaum die reinen Gefühle, ihr Wesen, noch den Sinn ihres Auftretens. Sie erkennen Leid nicht als Gefühl, verwechseln Gefühl und Emotion und erkennen die möglichen Mischungen nicht. Wut wird bis hin zu geistig hoch geehrten Menschen wie Eckhart Tolle als ‹negative Emotion› bezeichnet und Traurigkeit allein trübselig gesehen. Sogar herzoffene Menschen, die ihr Leben der Kommunikation und dem Fühlen widmen, wie die Lehrer der GFK-Bewegung nach Rosenberg, lehren nur vier Grundgefühle: ‹Wut›, ‹Freude›, ‹Angst› und ‹Trauer›.

Der 1999 erschienene und 704 Seiten starke «Brockhaus – Phänomen Mensch», von 11 Professoren unterschiedlicher Fachbereiche erstellt, beschreibt auf 110 Seiten den menschlichen Körper, auf 138 Seiten Wahrnehmen, Erkennen und Empfinden, auf 90 Seiten Lernen und Denken, auf 118 Seiten Kommunikation und Sprache und bis zum Ende des Buches das Verhalten des Menschen. Das 10 Seiten umfassende Register ist dreispaltig, kleingedruckt und enthält das Wort ‹Fühlen› nicht. Auch ‹Angst›, ‹Wut›, ‹Freude›, ‹Leid›, ‹Traurigkeit›, (‹Trauer›) und ‹Liebe› sind nicht gelistet. Der Begriff ‹Emotionen› führt zur Erwähnung einiger Gefühle: Allein im Kapitel ‹Kommunikation› werden sie als nach außen gerichtete Gesten und Ausdrücke beschrieben.³

Wikipedia schreibt zum Fühlen: «Gefühle sind das Produkt der Verarbeitung von Reizen, die ihren Ursprung in unseren Sinnesorganen nehmen. Sie vermitteln damit ein Bild von der uns umgebenden Welt, aber auch von Vorgängen unseres eigenen Körpers. Gefühle sind nicht nur Ausdruck äußerer Tatsachen, sondern auch unserer eigenen Beurteilung.»

Bis heute wird in der Schule freies Denken gefördert und der freie Ausdruck von Gefühlen bestraft. Radiosender beschäftigen nur gut gelaunte Moderatoren, die ihre Stimmung dauerhaft hoch halten müssen. In seinen 17 Beispielen zum Wort ‹Traurigkeit› wählte Steinbach vier, die das Unterdrücken dieses Gefühls umschreiben. Es schien ihm ein Anliegen zu sein, darauf aufmerksam zu machen, «sich die Traurigkeit nicht ein nehmen lassen» und einige Beispiel später noch einmal verstärkt: «sich die Traurigkeit völlig ein nehmen lassen». Wer ist es, der unser Fühlen einnehmen kann?¹

Bewusstes Fühlen wird uns kollektiv nicht leicht gemacht, dabei steht es im Menschen neben dem Denken und zeigt in jedem Moment seinen Ausdruck. Fühlen und Denken sind gleich mächtig und gleich weise. Fühlen ist stets eigen, während Denken auch von äußeren Inhalten gespeist wird. Menschen, die Macht über andere ausüben, fürchten Fühlen, denn es ist der Ausdruck der eigenen, unbeirrbaren Seele.

1: Christoph Ernst Steinbach, Vollständiges Deutsches Wörter-Buch, 2. erweitere Auflage, 1734

Einträge unter: «fühl, ich fühle», Seite 520, im Scan Seite 562: «Ich fühle Kälte», «Schmerzen fühlen», «Ich habe den Schlag nicht gefühlt», «er fühlte ein Frauenzimmer», «an den Puls fühlen», «wo der Kranke nichts am Gliede fühlt, ist eine Verlähmung oder Brand da», «ich fühle es am beßten», «er wird die Schläge wohl fühlen», «ich fühle keine Schmerzen mehr», «er fühlte sich», «einem auf den Zahn (Puls) fühlen», «Trost in seinem Elende fühlen», «Dein Schenkel wird nicht mehr den Grimm des Winters fühlen», «Darauf fühlte ich einen Trieb vermischt von Lust und Leiden»

Eintrag «Fühlen (das)»: «Das Fühlen ist der Grund aller Sinnen»

Eintrag «Fühler (der)» [kein Beispiel]

Eintrag «Fühlung (die)» [kein Beispiel]

Eintrag «fühlbar» [kein Beispiel]

Eintrag «Gefühle (das)»: «Wo das Gefühle aufhört, da ist der Tod nicht weit», «das Gefühle ist den Menschen mit den Thieren gemein»

Eintrag «angefühlt, ich fühle an»: «Der Arzt fühlt den Kranken mit den Händen an», «ich fühlte ihn nur mit den Fingern an», «ich begehre sie wohl nimmermehr an zu fühlen»

Eintrag «Anfühlung (die)» [kein Beispiel]

Eintrag «angefühlt» [kein Beispiel]

Eintrag «befühlen, ich befühle»: «Befühle nicht anderer Leute Weiber», «einem den Kopf im Schlafe befühlen», «sie befühlten den entseelten Leib», «den Fuß befühlen», «die Häscher befühlten den Dieb»

Eintrag «traurig», Seite 844, Scan Seite 852, 25 Beispiele u.a.: «Ein trauriger Anblick», «sich traurig stellen», «ich kam traurig nach Hause», «ich habe dich traurig gesehen», «ein traurig und niedergeschlagenes Gemüthe», «er machte sich traurig nach Hause», «traurige Leute», «ein trauriger Sieg», «das war vor mich ein trauriger Tag» {wirklich ‹vor› und nicht ‹für›}, «eine traurige Geschichte», «sehr traurig», «traurig antworten», «er ist stets traurig», «traurig werden», «traurig verbleiben», «traurig und betrübt», «ein wenig traurig»

Eintrag «Traurigkeit (die)», 17 Beispiele u.a.: «Eine verstellte Traurigkeit», «Traurigkeit verursachen», «sich der Traurigkeit ergeben», «einen zur Traurigkeit bewegen», «einem die Traurigkeit benehmen», «sich der Traurigkeit entschlagen», «So große Traurigkeit hat mir der Tag gemacht», «sich die Traurigkeit nicht ein nehmen lassen», «sich in so großer Traurigkeit befinden», «die Traurigkeit fahren lassen», «er muß vor Traurigkeit fast vergehen», «die Traurigeit kommt mich eher an, als die Freude», «durch seine Thorheit in Traurigkeit gerathen», «sich die Traurigkeit völlig ein nehmen lassen», «in Traurigkeit setzen»

Eintrag «getrauert, ich traure», 7 Beispiele: «Um seine Frau trauern», «laßt uns nicht weiter trauern», «er trauret über seinen Vater», «sie trauren sehr», «es trauret alles um ihn», «die ganze Stadt trauret»

Eintrag «Trauren (das)», 6 Beispiele: «In großes Trauren gerathen», «ich kann sein Trauern nicht ansehen» {hier erstaunlicherweise «Trauern» und nicht «Trauren»}, «einen in Trauern setzen», «sich im großen Trauern befinden», «das Trauern ist eine Betrübnis über dessen Tod, der uns lieb geworden», «das Trauren durch sein Weinen vergrößern»

Eintrag «ausgetrauret, ich traure aus», 2 Beispiele

Eintrag «betrauret, ich betraure», 2 Beispiele u.a.: «Sie betraureten seinen Tod sehr», «das Unglück einer Stadt betrauren»

Eintrag «gelieden, ich leide, du leidest, er leidet, ich lied», Seite 1053, Scan Seite 1095, 18 Beispiele u.a.: «Den Schmerz leiden», «Durst leiden», «ich leide es nicht gerne», «das wird nicht nur allein kein Mensch leiden, sondern auch nicht das Vieh», «alles geduldig leiden», «die Schläge leiden und nichts dazu sagen», «wenn es die Zeit leiden wollte», «wenn es die Sache so gelieden hätte», «den kann ich nicht vor meinem Angesichte leiden», «er leidet das Unrecht», «alle Schmähungen ganz gelassen leiden», «lieber alles leiden, als sich ergeben wollen», «Hunger leiden», «Hunger leiden lassen», «was man nicht leiden kan»

Eintrag «Leid (das)», 11 Beispiele: «Leid verursachen», «ein Leid empfinden», «das Leid mindern», «in seinem Leide vergehen», «sich Leid an thun», «niemanden Leid thun», «nicht zu lassen, daß einer den Leuten Leid thue», «in Freud und Leid mit einem aus halten», «das größte Leid vergeht mit der Zeit», «um einen im Leide gehen», «er trägt Leid»

Eintrag «Leiden (das)», Seite 1054, Scan Seite 1096, 6 Beispiele u.a.: «Das Leiden mindern», «dessen Leiden schwer fällt», «das Leiden des Hunges», «das Leiden aus stehen»

Suche nach «empfinden»: Scan Seite 386: «Scham und Verdruß empfinden», Scan Seite 1055: «ein wunderbares Vergnügen empfinden»

2: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1854-1961, Eintrag unter ‹fühlen›: «es wurde vorhin bemerkt, dasz das wort im mhd. nicht mehr üblich sei, sondern sich auf das mitteldeutsche beschränke. in jenem kommt dafür enphinden, enpfinden, unser heutiges empfinden vor, wie schon die 3, 426 angeführten stellen zeigen, und fühlen ist in manchen gegenden Süddeutschlands dem volke allmählich so fremd geworden, namentlich in dem südwesten und der Schweiz, dasz der 1523 zu Basel erschienene nachdruck von Luthers übersetzung des neuen testamentes als ein gleichsam unbekanntes wort in dem bl. 361b ff. angehängten wortverzeichnisse fülen eben durch enpfinden erklärt. auch verzeichnet Sebastian Helber, der kaiserlicher notar zu Freiburg im Breisgau war, s. 47 f. unter den wörtern mit üe kein füelen, und schweizerisch kennt man noch heute kein füela, füele, das, wenn es vorkäme, sicher bei Tobler aufgenommen sein würde. ferner scheint in den heutigen mundarten Süddeutschlands fühlen trotz seiner üblichkeit in der schriftsprache kein gewöhnliches wort, wenigstens wird bair. füeln von Schmeller 1, 525 als unvolksüblich bezeichnet, wenn gleich weit minder als die gleichbedeutend gebrauchten empfinden, spüren, greifen. völlig geläufig jedoch ist das wort bei dem volke in Mittel- und Norddeutschland. neben nd. fölen, das bereits oben angegeben ist, erscheint clevisch füle (Geerling die clevische volksmundart, Wesel 1841, s. 36), göttingisch-grubenhagenisch foilen (Schamb. 274a), und wetterauisch sagt man foile. aus der sprache Mitteldeutschlands ist dann fühlen in die nhd. sprache gekommen.»

3: Brockhaus – Phänomen Mensch, aus der Reihe: ‹Mensch, Natur, Technik›, Brockhaus Verlag 1999; «… Emotionen werden im limbischen System des Gehirns erzeugt» (S. 171); «… Emotionen sind Impulse und Bewertungsvorgänge im Gehirn …» (S. 431)

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gemischt Trennstrich senkrecht B, Tusche Was kein Fühlen ist Trennstrich senkrecht E, Tusche aufgesetzt Trennstrich senkrecht D, Tusche fühlen lernen Trennstrich senkrecht C, Tusche Liebe Trennstrich senkrecht B, Tusche Vortrag Trennstrich senkrecht D, Tusche Übung

veröffentlicht am 10.11.2016, letzte Änderung am 10.11.2016 um 21:30 Uhr

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